Leseförderung als Audio-Podcast!
Eine Klassenlektüre lesen und gemeinsam eine Audiosendung darüber produzieren? Das klingt vielversprechend und setzt definitiv neue Impulse in Sachen Leseförderung und Medienkompetenz.
Im Blogartikel und «Making-of» gibts neben konkreten Anleitungen zum Podcasten auch viele Tipps und Tricks darüber, wie es gelingt, den Jugendlichen den Lead zu übertragen und Herausforderungen gemeinsam zu meistern.
Spoileralarm
Um es gleich vorweg zu nehmen: Es war eine grossartige Erfahrung und hat nicht nur die Medienkompetenz der Jugendlichen bereichert und das literarische Repertoire erweitert, sondern auch den Zusammenhalt in der Klasse gestärkt.
Daher: Zum Nachmachen wärmstens empfohlen! Aber der Reihe nach...
Kickoff: Die Klasse für das Projekt begeistern
Anfang 2022 erhielt ich die Gelegenheit, für den Bücheralarm.de von Lena Stenz als Pilotklasse bei einem tollen Leseprojekt mitzumachen: Aufgabe: Eine 30-minütige Podcast-Episode zu einer Klassenlektüre produzieren.
Ziel des Podcastes ist, andere zum Lesen des Buches zu animieren, indem in der Sendung nicht nur Teile aus dem Buch vorgelesen, sondern auch weiterführende Gedanken oder Themen zum Inhalt aufgegriffen und diskutiert werden. Das können Interviews, vorgelesene Textpassagen oder Stellungsnahmen usw. sein.
Mehrere Pilotklassen aus Deutschland - und wir aus der Schweiz ☺ - produzierten in den letzten Monaten jeweils eine Podcast-Sendung. Diese werden ab dem 11.11.22 veröffentlicht und
können danach auch via Spotify gestreamt werden. Sie sollen anderen Klassen als Beispiele dienen, um selbst Podcasts für den Bücheralarm zu produzieren.
Dieser Blogbeitrag soll daher auch andere zum Mitmachen und Podcasten animieren und hinter die Kulissen blicken lassen.
Aber zurück zu unseren Anfängen.
Eine Klasse war schnell gefunden: Vielen Dank an dieser Stelle für die geniale Zusammenarbeit mit Klassenlehrerin Bettina Bär. Gemeinsam ist es uns gelungen, die Klasse bei einer Kickoff-Veranstaltung zum engagierten Mitmachen zu motivieren - einer der wichtigsten Gelingensfaktoren des Projektes. 18 heterogene Jugendliche waren bis zum Schluss begeistert und auch noch für eine Extra-Challenge zu haben: Unser Vorstellungs-Video für die Startveranstaltung vom 11.11.
Unser Buch - "Das Herz eines Boxers" von Lutz Hübner - wurde übrigens vom Westermann-Verlag ausgewählt und zur Verfügung gestellt. (Dankeschön!)
Während einige der Jugendlichen ob der geringen Seitenanzahl jubelten, fanden andere es schade, dass das Buch - ein Theaterstück und in Deutschland als Klassenlektüre Standard - so dünn war. Viel vorlesen konnten wir in unserem Podcast also nicht - denn mehr als 10% des Werkes durfte es nicht sein...
«Dank unserem Podcast-Projekt wird mir dieses Buch immer in Erinnerung bleiben. Das wäre sicher nicht so, wenn wir es einfach nur gelesen hätten.»
Schüler der Projektklasse
Erster Auftrag:
Buch lesen und dabei parallel einige der Seiten der Begleitdokumentation ausfüllen.
Zeit: 2 Wochen
So waren gute Ideen gefragt, wie die 30 Minuten gefüllt werden konnten, ohne dass den Zuhörenden das Gesicht einschläft.
Beim Kickoff stellten die Klassenlehrerin und ich als "Auftraggebende" schon mal den ersten rudimentären Zeitplan vor, der sich über mehrere Monate erstreckte.
Eine fixe Lektion pro Woche arbeitete die ganze Klasse am Podcast:
Erster Zeitplan: Februar - Juni 22
Die Methode: EduScrum
EduScrum ist eine agile Unterrichtsmethode die sich aus dem Vorgehensmodell Scrum ableitet. Scrum kommt in der IT-Branche, z.B. bei der Software-Entwicklung üblicherweise zum Einsatz und hilft, die einzelnen Teams zu koordinieren, die an gemeinsamen komplexen Lösungen arbeiten.
Beim EduScrum werden u.a. die Arbeitsschritte in sogenannte Sprints aufgeteilt und noch während des Entstehungsprozesses bei regelmässigen Treffen - den "Standup-Meetings" - zeitnah überprüft. Grosser Vorteil dabei ist, dass laufend Korrekturen vorgenommen werden können und man Fehler nicht erst ganz am Schluss erkennt.
Als weiteres Merkmal der EduScrum-Methode bleiben die Lehrpersonen als "Auftraggebende" im Hintergrund und überlassen die Entwicklung des Produktes - bei uns also des Podcastes - weitgehend den verschiedenen Teams, die sich die Gesamtaufgabe in kleine Einheiten (Sprints) aufteilen. Diese Teams regeln selbstständig, welche Arbeitsschritte bei ihrem Sprint anfallen, wer dafür zuständig ist und wann ein Arbeitsschritt als erledigt gilt. Die Lernenden übernehmen Verantwortung und halten gemeinsam als Klasse die Fäden in der Hand.
Das bedeutete für uns Lehrpersonen:
- Aushalten, dass die Lernenden Zeit brauchen, um selbst eine Lösung für eine Herausforderung zu finden und nicht schon zu früh mit Lösungsvorschlägen vorpreschen
- Akzeptieren, dass es verschiedene Lösungswege gibt und man auch über Umwege zum Ziel kommen kann
- Entspannt bleiben, auch wenn alles manchmal etwas chaotisch wirkt und man den Überblick zu verlieren scheint
- Erkennen, wann es wichtig ist, coachend einzugreifen, damit die Motivation erhalten bleibt
- Feststellen, dass plötzlich echte Talente entdeckt werden können und sich Kompetenzen der Jugendlichen offenbaren: Wer kann die Führungsposition einnehmen und ausfüllen? Wer gibt zu schnell auf? Wer hat genug Biss und Durchhaltevermögen, auch wenn es mal schwierig wird? Wer ist bereit, einen Extra-Aufwand zu leisten?
- Und am wichtigsten bleibt: Dran glauben, dass die Klasse es schaffen kann, dann schafft sie es auch :)
«Das Projekt hat mir ermöglicht, die Klasse nochmals völlig neu kennenzulernen.»
Klassenlehrerin
Step 2: Konzept erstellen und Teams bilden
Was soll in unseren Podcast rein? Welche Ideen haben die Jugendlichen nach dem Lesen des Buches? Was würde ihnen beim Hören gefallen? Das ist entscheidend, denn unsere Zielgruppe, die sich den Podcast anhören wird, sind andere Jugendliche.
Fokus beim 2. Treffen:
- Alle haben das Buch gelesen, den Inhalt verstanden und wissen, was in den einzelnen Kapiteln des Buches passiert.
- Jede/r kann Ideen beisteuern, welche Inhalte in unserem Podcast Platz haben sollten (siehe Begleitdoku). Bereits fix vorgesehen sind das Interview mit dem Autor (dessen Mitmachen. vorausgesetzt) sowie das Vorlesen einzelner Textstellen
- Aus den Komponenten erstellen wir gemeinsam ein Konzept, einen ersten Entwurf, des Podcastes, der sich im Verlauf des Projektes noch stark verändern kann und darf.
- Alle Jugendlichen entscheiden sich für einen inhaltlichen Bestandteil und übernehmen damit eine Rolle im Projekt. Diese kleinen Teams arbeiten danach selbstständig weiter und definieren ihre "Sprints".
Unsere Teams nach dem 2. Treffen:
Technik - Unterstützung beim Zuschneiden
Moderation - Verbindung der einzelnen Teile
Interview Autor - Anfragen und interviewen
Alt - Blickwinkel ältere Generation
Jung - Blickwinkel jüngere Generation
Leseszenen - auswählen, vorlesen
Diskussion - zu Leseszenen oder Problematik
Jojo/Leo - Hauptfiguren vorstellen
Die Jugendlichen konnten sich selber für eine Rolle entscheiden. Manche übernahmen mehrere Rollen, was die Organisation teilweise erschwerte, da sie dann in verschiedenen Teams mitwirkten.
«Ich habe beim Projekt gemerkt, wie viel Planung und Organisation es braucht, damit eine Sendung entsteht.»
Schüler der Projektklasse
Jedes Team plante nun die Steps zur Erledigung ihres Sprints selbstständig und hielt den Prozess an einer grossen Pinwand fest.
Beim wöchentlichen Standup-Meeting berichtete jedes Team über den aktuellen Stand.
- Woran wird gerade gearbeitet?
- Worin bestehen die aktuellen Herausforderungen?
- Wen oder was braucht das Team zur Unterstützung?
- Welche Ziele wollen bis wann erledigt sein?
Erledigte Teilaufgaben des Sprints wurden an der Pinwand ersichtlich gemacht und hoben sich farblich voneinander ab. So behielten alle den Überblick.
Das Storyboard - die genaue Reihenfolge der fertigen Einzelteile - entstand nach und nach und wurde beim Standup-Meeting ausgehandelt.
- Womit soll unser Podcast beginnen?
- Wie soll er aufhören?
- Wie viele Leseszenen soll es geben?
- Haben wir genug Material oder benötigen wir noch mehr?
- Wie lange sollen die einzelnen Teile werden?
Wichtig
Es bedarf einer Gratwanderung, die ersten euphorischen Ideen der Jugendlichen nicht gleich abzublocken, weil sie uns Erwachsenen nicht realisierbar erscheinen. Ein wichtiger Aspekt beim Projekt ist, dass die Schülerinnen und Schüler selbst erkennen, wo sie Anpassungen vornehmen müssen. Diese Selbstwirksamkeit generiert viel Selbstvertrauen. Es lohnt sich, diese Erfahrung nicht zu verschenken.
Step 3: Achtung Aufnahme!
Das Team "Technik" musste sich bereits im Vorfeld mit dem Programm Audacity befassen und erhielt dazu Anleitungen und Videotutorials für das Selbststudium.
Die Basics zum Programm Audacity lernte die ganze Klasse in einer Spezial-Lektion. So konnte jede/r gleich selbst eigene Versprecher rausschneiden, das sparte viel Zeit. Jedem Team stand zudem ein Mitglied der "Technik" zur Seite.
Sobald ein Team seine Planung soweit vorbereitet hatte, konnte es im eingerichteten Podcast-Studio loslegen und die Aufnahmen starten.
Best-Practice-Tipps zur Aufnahme:
- Ruhige, gedämpfte Umgebung finden und Störgeräusche verhindern
- Hochwertiges Mikrofon (z.B. von Shure) verwenden
- Mikrofon einstecken, bevor Audacity gestartet wird, sonst wird es vom Programm nicht erkannt
- Direkt im Programm Audacity aufnehmen und grobe Versprecher immer gleich im Anschluss rausschneiden
- Eine klare und einheitliche Datenablage der fertigen mp3-Clips erleichtert die ganze Produktion
Jedes Team liess die fertige Aufnahme durch eine Partnergruppe anhören. Gemeinsam bestimmten sie, welche Inhalte tatsächlich im Podcast verwendet werden sollten. Das war vor allem bei langen Aufnahmen (z.B. dem Interview) sehr hilfreich. Hauptkriterium: Was könnte andere Jugendliche beim Anhören interessieren? Was ist zu langweilig?
Step 4: Einzelteile zusammenfügen und letzter Schliff
Für das finale Zusammenschneiden des ganzen Podcasts meldeten sich zwei Freiwillige als Mastertechniker. Mit viel Herzblut fügten sie alle Einzelteile aus der Datensammlung zusammen und erstellten die letzten Verbindungsclips.
Dafür investierten die beiden einen ganzen Mittwochnachmittag und wurden in der Mediothek gecoached.
Hochkonzentriert und top motiviert entstand daraus unser Endprodukt. Eine echt starke Leistung!
Das Storyboard bildete sich aus den einzelnen Audio-Beiträgen sowie den Übergangstexten. Jeder Clip erhielt eine Ziffer und einen passenden Titel. Die Ziffern entsprachen der Reihenfolge, in der die Clips im Podcast folgen sollten. In dieser Reihenfolge wurde am Schluss alles zusammengefügt.
Übrigens: Auf dem Storyboard färbten wir laufend die fertigen Clips grün ein. So war schnell sichtbar, welche Clips bereits im gemeinsamen Cloudspeicher abgelegt worden waren.
Insgesamt setzte sich unser Podcast aus 27 einzelnen Clips zusammen - die Musik-Jingles als Zwischenspiel nicht eingerechnet.
Zu recht waren das Masterteam sehr stolz auf das Resultat und durfte das Ergebnis dafür als Erste anhören.
Nun konnten wir Lehrpersonen ganz entspannt Step 5 planen und zum exakt vorausgesagten Datum gemeinsam mit der ganzen Klasse den fertigen Podcast anhören und gemeinsam den Erfolg feiern.
«Es war eine tolle Sache, dass wir bei diesem Projekt mitmachen durften. Wir haben sehr viel gelernt und profitiert.»
zwei Jugendliche unserer Projektklasse
Step 5: Gemeinsam feiern und zurückblicken
Bei einem kleinen Apéro hörten wir uns als Klasse gemeinsam den fertigen Podcast an und freuten uns an dem Ergebnis.
Am 11. November 22 wird die Episode an der Startveranstaltung in Hofheim (D) und im Livestream auf Youtube veröffentlicht.
Ab diesem Zeitpunkt findet man unsere Episode "Das Herz eines Boxers" zusammen mit den Episoden der anderen Pilotklassen auch auf Spotify. Darüber freuen wir uns.
Highlights
Neben ganz vielen anderen, seien hier diese vier genannt:
- Zu sehen, wie die Klasse an der Aufgabe gewachsen ist und der Podcast nach und nach zu einem Ganzen wurde
- Das Live-Interview (via MS 365 Teams) mit Lutz Hübner, dem Autor von "Das Herz eines Boxers": Mega sympathisch, total offen und spontan stellte er sich den Fragen der Schülerinnen
- Das Durchhaltevermögen der Schülerinnengruppe, die ein Interview mit Menschen aus dem Altersheim machten. Es brauchte mehrere Anfragen und ein grosses Engagement in der Freizeit
- Die Freude und Dankbarkeit der Jugendlichen über das Projekt und die Beziehung, die während dieser Zeit zur Klasse entstanden ist. Davon profitieren wir auch noch lange danach.
An Herausforderungen wachsen
Am meisten lernt man bei einem Projekt - wie uneigentlich ja im ganzen Leben - aus den Pannen, bzw. wenn nicht immer alles rund läuft. Dann gilt es, Nervenstärke zu zeigen, das Beste aus der Situation zu machen oder allenfalls eine neue Lösung zu finden.
Beispielsweise musste eines der Teams nach einem Interview feststellen, dass die Aufnahmesituation im Korridor des Altersheims eine sehr schlechte Aufnahmequalität zur Folge hatte. Ausserdem sprachen die Beteiligten in Mundart - was die Zielgruppe des Podcasts (Jugendliche aus Deutschland) wohl nicht verstehen würde. Da war Erfindergeist gefragt...
Wie die Gruppe diese Challenge gelöst hat, erfährt man, wenn man den Podcast anhört ;)
Fazit
Das gemeinsame Produzieren eines Bücherpodcastes ist eine super Sache und katapultiert die Leseförderung, Medienkompetenz und Projektarbeit auf ein neues Level, von dem alle Beteiligten auf vielerlei Ebenen profitieren.
Ich freue mich vor allem darüber, dieses Projekt mit einer Klasse der 1. Oberstufe verwirklicht zu haben, denn: Auf diesem gemeinsamen Erlebnis können wir aufbauen und den Erfolg noch weitere zwei Jahre geniessen.
Besten Dank an Lena Stenz für die Lancierung des Bücheralarms für die Oberstufe und der Möglichkeit, uns als Pilotklasse dafür auszuwählen.
Und zum Schluss: Hut ab vor der Leistung der Klasse S1d im Schuljahr 21/22. Ihr habt das echt super gemacht! Ich bin sicher, dass dieses Projekt euch noch weit über eure Schulzeit hinaus in Erinnerung bleiben wird.
Feuer gefangen?
Wer nun selbst einen Bücherpodcast für den Bücheralarm produzieren möchte, meldet sich am besten bei Lena Stenz auf
Nach der Anmeldung erhaltet ihr als Benefit eine Handreichung für Lehrpersonen mit weiteren Hinweisen und Arbeitsblättern, die euch bei der Produktion weiterhilft.
Sobald eure Episode von BÜCHERALARM online gestellt wurde, könnt ihr sie verlinken, bewerben und teilen! Auch BÜCHERALARM, der Verlag, der/die AutorIn machen Werbung für eure Episode. So sorgen wir gemeinsam dafür, dass ganz viele Zuhörer euren Bücher-Podcast hören – weltweit über Spotify & Co.
Bezug zum Lehrplan M+I
MI 1.3: Medienbeiträge produzieren
Die Schülerinnen und Schüler können Gedanken, Meinungen, Erfahrungen und Wissen in Medienbeiträge umsetzen und unter Einbezug der Gesetze, Regeln und Wertesysteme auch veröffentlichen.
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Lena vom BÜCHERALARM (Mittwoch, 29 Juni 2022 21:19)
Eine übersichtliche und sehr inspirierende Zusammenfassung Eurer Vorgehensweise beim Realisieren Eures ersten Podcasts mit dem BÜCHERALARM! Ich bin begeistert und glücklich, dass ihr meine erste Schule in der Schweiz �� seid — ich hätte keine bessere Pilotklasse finden können! Ich wünsche euch, dass ihr noch oft an dieses Projekt zurückdenkt und Euch weiterhin mit der spannenden Allianz aus klassischer Leseförderung und dem modernen Medium Podcast arbeitet! Viel Spaß damit �