Noch nie wurde so viel geschrieben wie heute. Jährlich erscheinen Tausende neuer Jugendbücher auf dem Markt.
Doch trotz gefüllter Bücherregale verlernen unsere Jugendlichen das Lesen.
Was ist dran an der Lesekrise und was könnte helfen?
Mehr dazu im neusten Blogartikel.
Bildquelle: Dall-E 3, 19.11.23cb
«Lesekrise»
So titelt die NZZ am Sonntag vom 19. November 2023 einen Artikel von Linus Schöpfer.
Darin wird eindrücklich beschrieben, dass die Hälfte der Jugendlichen das Lesen so schlecht beherrscht, dass es zur Bewältigung des Alltags nicht mehr ausreicht.
Besonders drastisch werden die Auswirkungen der mangelhaften Rezeption im Zusammenhang mit dem Erkennen von Fake News beschrieben. Wer bereits Schwierigkeiten hat, einfachste Texte in Gratiszeitschriften zu verstehen, wird sich kaum mit längeren Sachtexten über komplexe Zusammenhänge auseinandersetzen, sondern bleibt in seiner eigenen Filterblase gefangen und lässt sich leicht manipulieren.
Wie konnte es bloss so weit kommen?
Knick in der Lesebiografie
Die ungenügende Lesekompetenz ist seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 im Fokus. Erkannt wurden ausserdem zwei besonders sensible Zeitfenster in der individuellen Lesebiografie, die über die künftige Lesekompetenz entscheiden:
Ein erster Leseknick droht, wenn unmittelbar nach dem Erwerb der Basiskompetenzen (Ende des 2., anfangs 3. Schuljahr) nicht systematisch weiter geübt wird. Diese Kinder laufen Gefahr, das Lesen nie gut genug zu lernen, um es ausreichend zu automatisieren.
Mit dem Eintritt in die Sekundarstufe droht der zweite Leseknick: Bei vielen Kindern erlischt - oft aus Zeitmangel - das Interesse am Lesen. Zusätzlich erwerben gefährdete Jugendliche Strategien, um das Lesen zu vermeiden. Dadurch verschlechtert sich ihre Lesekompetenz weiter. Je tiefer sie in diese Spirale geraten, desto schwieriger wird es, sie wieder zu durchbrechen. Am Ende droht sogar ein Illettrismus, bei dem die Lesefähigkeit nie über das Buchstabieren und Entziffern hinauskommt (siehe lesen-schreiben-schweiz).
Weitere Faktoren, die Jugendliche daran hindern, ihre persönliche Lesekompetenz zu verbessern:
- Identitätssuche und Zugehörigkeit: Der Druck der Peergroup kann über die Akzeptanz des Bücherlesens entscheiden
- Erhöhter Druck bei der Berufswahl - Zeit zum Lesen wird oft gestrichen
- Schnelllebigkeit und multimediale Möglichkeiten: Lieber schnell einen Film schauen, statt viel Zeit fürs Lesen brauchen
- Zu viele Hobbys, die mit dem Lesen konkurrieren - Zeit wird knapp
- Zeitverlust durch Social Media - gelesen wird zwar, aber nur die Posts der Influencer, keine klassischen Bücher
- Verlust der Lesemotivation - die in der Schule vorgeschriebene Literatur entspricht nicht den Interessen der Jugendlichen
- Fehlende Verfügbarkeit von attraktiven, kostenlosen Jugendbüchern
- Fehlende Vorbilder und persönliche Beziehungen zu anderen Lesenden
Warum (Schul-) Bibliotheken/Mediotheken Teil der Lösung sein können
(Schul-)Bibliotheken - heute immer häufiger auch Mediotheken genannt - spielen eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Lesekrise: 6 Argumente:
- Vielfältige Bücherauswahl: Bibliotheken bieten Zugang zu einer großen Auswahl an kostenlosen Büchern, die unterschiedliche Interessen und Lesestufen ansprechen. Dies kann von der Lehrperson allein nicht geleistet werden.
- Professionelle und sachkundige Betreuung der Besucherinnen und Besucher: In Bibliotheken kann man sich über aktuelle Trends in der Kinder- und Jugendliteratur informieren. Das entlastet die Lehrkräfte spürbar.
- Förderung der Lesekompetenz: Bibliothekarinnen bieten immer wieder neue Möglichkeiten der Leseförderung, von denen Lehrpersonen mit ihren Klassen profitieren können.
4. Sicherer und ruhiger Lese- und Lernort: Die Bibliothek wird von vielen Besucher/innen als der 3. Ort wahrgenommen, an dem man sich gerne aufhält - neben der Schule und dem Zuhause.
5. Integration von Technologie und Medienkompetenz: Moderne Schulbibliotheken integrieren auch digitale Medien und vermitteln den sicheren und effektiven Umgang damit - insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Erkennen von Fake News.
6. Begegnungen mit Autorinnen und Autoren -
In Bibliotheken treffen Leserinnen und Leser auf Menschen, die Geschichten schreiben.
Ein unvergessliches Highlight!
Lest Bücher!
Das flüchtige Lesen von Kurznachrichten unterscheidet sich vom Deep-Reading, also dem Eintauchen in eine lange Geschichte ohne Bilder, komplett. Während ersteres von Jugendlichen tagtäglich auf ihren Smartphones praktiziert wird, bleibt das Lesen eines ganzen Buches oft die große Ausnahme. So fehlt es den Jugendlichen an Übung, das Durchhaltevermögen aufzubringen, um ein Buch von mehreren hundert Seiten zu lesen. Doch das lässt sich üben.
Allerdings:
Lesen lernen bleibt Training und ist anfangs mit harter Arbeit verbunden. Der Vergleich mit einer Sportart liegt nahe - Erfolg stellt sich erst nach langem Üben ein, wenn die Kompetenz gefestigt ist. Lesen ist keineswegs ein "Talent", wie manche meinen, sondern erfordert Trainingsdisziplin und Geduld.
Lehrpersonen und (Schul-)Bibliothekarinnen können gemeinsam ein passendes "Lese-Trainingscamp" für Jugendliche anbieten und den Fokus wieder vermehrt auf das ungestörte Lesen analoger Bücher legen. So bleibt die Chance hoch, die Lesekrise zu überwinden.
Lesen müssen die Jugendlichen dann aber dennoch selber. Und das braucht Zeit. Mutige Lehrpersonen lassen sich vom vollen Lehrplan nicht abschrecken, sondern fokussieren klar. Sie fordern das Lesen ganzer Bücher immer und immer wieder hartnäckig ein - mit der Erfahrung, dass sich nicht nur die Lesekompetenz der einzelnen Jugendlichen verbessert, sondern auch die Lesemotivation steigt. Einfach, weil sie das Lesen nun besser beherrschen.
Aus der Praxis: Den Leseknick überlisten
Genug der Theorie, jetzt wird aus dem "Lesekästchen" geplaudert. Nicht nur, dass unsere Schule eine Mediothek vom Feinsten speziell für Jugendliche aufweist, auch die Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und Mediothek ist intensiv und mit regelmässig stattfindenden Events etabliert.
Hier drei ausgewählte, einfache Leseförderungsaktionen, um gemeinsam den Leseknick auf der Oberstufe zu verhindern:
Tipp 1: Mediobingo
4 Bücher in 4 Monaten lesen
Welche Klasse gewinnt?
Alle ersten Oberstufenklassen beteiligen sich am Mediobingo. Wer 4 Bücher nach bestimmten Kriterien gelesen hat, kann seine Bingokarte in der Mediothek abgeben. Je mehr Karten pro Klasse in die Urne gelegt werden, desto grösser die Chance, als Sieger/in aus dem Topf gezogen zu werden, wenn die 4 Monate um sind. Das Los entscheidet. Als Gewinn erhält die ganze Klasse des Siegers/der Siegerin ein Znüni und Ruhm und Ehre auf der Homepage.
Die Bingokarte ist mit Canva schnell erstellt. Als Ideengeber hier die Vorlage aus der Mediothek Sternmatt 2:
Erfahrungen Mediobingo:
Erfolgsrate: sehr hoch
Beteiligung und Motivation: gross
Aufwand: gering
Betrugsmöglichkeit: mittel
(die Lehrperson bestätigt das Lesen durch ein Visum, die Mediothekarin diskutiert mit der Leserin/dem Leser über den Inhalt)
Tipp 2: Lesewoche vor Weihnacht
Eine Woche lang wird in unserem Schulhaus in allen Klassen in der jeweils ersten Lektion gelesen. Freie Wahl der Lektüre, die Lehrperson liest ebenfalls.
Diese Leseförderungsaktion hat Tradition und ist bei allen äusserst beliebt. Die Konstanz, während einer ganzen Woche jeweils 45 Minuten Zeit zum Lesen zu haben, bringt neben einem intensiven Lesetraining Ruhe in die hektische Vorweihnachtszeit und Muße, um das Genusslesen überhaupt erst zu entdecken.
Erfahrungen Lesewoche:
Erfolgsrate: sehr hoch
Beteiligung und Motivation: sehr hoch
Aufwand: gering
Betrugsmöglichkeit: gering (was soll man sonst tun?)
Tipp 3: Begegnungen mit Autorin/Autor ermöglichen
Bücher werden durch die persönliche Begegnung mit dem Schriftsteller, der Schriftstellerin lebendig und erhalten ein Gesicht.
Nichts lässt eine Geschichte attraktiver werden, als wenn ein Autor/eine Autorin daraus vorliest, Einblick in den persönlichen kreativen Prozess gibt und von damit verbundenen Herausforderungen erzählt. Dies kann nicht nur das Lesen von Büchern fördern, sondern auch Inspiration und Motivation für das Schreiben eigener Geschichten sein.
Mindesten einmal während der Oberstufenzeit ermöglichen wir unseren Schülerinnen und Schülern eine solches Erlebnis.
Erfahrungen Autorenlesungen:
Erfolgsrate: hoch
Beteiligung und Motivation: hoch
Aufwand: mässig dank professioneller Unterstützung
Ein besonderer Dank an dieser Stelle an Dagmar Stärkle (Kanton Zug) und Leslie Schnyder (Kanton Luzern), die seit Jahren für die Schulen hervorragende Lesungen organisieren, von denen auch wir profitieren dürfen.
Meine persönliche Zauberformel aus der Mediothek für die Leseförderung
- Fördere die individuelle Lektüreauswahl, aber erkenne, wer welche Hilfe dabei braucht
- Zeig echtes Interesse am Gegenüber und der gewählten Lektüre und frage nach
- Kombiniere persönliche Interessen und aktuelle Trends aus der Lebenswelt der Jugendlichen mit interaktiven und sozialen Leseerfahrungen
- Biete Möglichkeiten für kreative Auseinandersetzung und Austausch mit dem Gelesenen, gern auch mittels moderner Technologien und Medien
- Ermögliche positive Erlebnisse und Begegnungen im Zusammenhang mit dem Lesen
- Platziere alles in einer dynamischen, attraktiven und jugendgerechten Leseumgebung, in der alle willkommen sind
- Schaffe Möglichkeiten der Partizipation und Wertschätzung
- Lies selber Bücher und sprich darüber
Booktok - am anderen Ende der Skala
Wie immer im Leben gibt es auch zur Lesekrise einen Gegentrend: Auf Tiktok finden sich beispielsweise Bücherfans unter dem Hashtag #Booktok und tauschen sich mit selbst produzierten Videos
und Kommentaren über ihre Lieblingsbücher aus. Sie rezensieren Neuheiten oder diskutieren alternative Wendungen und mögliche Fortsetzungen von Storys...
Bei diesen Jugendlichen ist die Lesekrise definitiv kein Thema.
Fazit
Noch bevor der Kampf gegen Fake News erfolgen kann, benötigen Menschen gute Lesekompetenzen.
Lesen können ist in unserer Gesellschaft weiterhin eine Schlüsselkompetenz und bringt Wissen, Macht und Erfolg. Selbst in Zeiten von KI gehört das Lesen und Verstehen zu den wichtigsten Skills. Kann man es nicht selbst, bleibt man abhängig und ausgeschlossen.
Lesen lernt man aber nur durch lesen. Diesem Lesetraining sollten wir besonders während der Adoleszent die nötige Aufmerksamkeit schenken, um unsere Gesellschaft medienkritisch und -kompetent erhalten zu können.
Bibliotheken/Mediotheken können dabei einen gewichtigen Beitrag leisten, Lehrpersonen unterstützen und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, die für sie passende Lektüre zu finden, bei der sie motiviert dranbleiben. Nur wer lesen geniessen kann, wird es wieder tun.
Weiterlesen:
Woran lassen sich Fake News erkennen? Am Beispiel der vielen Falschnachrichten auf Social-Media-Plattformen in Zeiten von Krieg und Machtübernahme werden Möglichkeiten aufgezeigt, der Wahrheit näher zu kommen.
Eine besondere Form der Lesenanimation: Passend zur Lektüre wird mit der ganzen Klasse eine Audiosendung produziert. Ein Projekt mit Tiefgang.
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