Die Schulversion des Dokumentarfilmes «Gefangen im Netz» zum Thema Cybergrooming stand im Zentrum des Netzwerktreffens i@p und i@s der ICT-Fachgruppe OSKIN, Kanton Zug.
Nach der Filmsichtung wurden folgende Fragen diskutiert:
- Kann es gelingen, das Thema Cybergrooming mit diesem Film im Unterricht zu behandeln?
- Wo liegen die Grenzen des Zumutbaren für Heranwachsende?
- Helfen die Unterlagen zum Film, um mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen und wichtige Verhaltensregeln zu vermitteln?
Der Blogartikel liefert Antworten.
Kein echter Kinospass
Um es gleich vorwegzunehmen: Echtes Kinofeeling kommt bei diesem Film definitiv nicht auf. Es ist kein Popcorn-Kino-Event, zu dem sich die kantonalen Netzwerkgruppen der Primar- und Oberstufe am Mittwochnachmittag in Baar getroffen haben. Zu schwer das Thema, zu heftig die Tatsache, dass es sich eben nicht um eine erfundene Dystopie handelt, sondern im Minutentakt im echten Leben passiert...
Definition
Hintergrundinfos zum Film
«Gefangen im Netz» ist kein Spielfilm, sondern eine Dokumentation, ein filmisches Experiment.
Die zum Film gehörende Webseite macht gleich klar, worum es geht. Ein Zähler, der mit rasender Geschwindigkeit oben auf der Webseite läuft, deckt in wenigen Worten die Sachlage auf:
«Seit du auf der Webseite bist, wurden .... Fotos sexualisierter Gewalt ins Internet geladen.»
Der Film ist in zwei unterschiedlichen Versionen erhältlich. Dieser Blogartikel bezieht sich aber ausschliesslich auf die 63-minütige Schulversion, denn nur diese haben wir visiert. Die Schulversion arbeitet mit verpixelten Bildern, z.B. während Masturbationsszenen. Zusätzlich werden immer wieder Szenen eingeschoben, in denen die Protagonistinnen Tipps für das korrekte Verhalten im Netz geben.
Laut FSK wird der Film in der Schulversion ab 12 Jahren empfohlen.
HINWEIS:
Zusätzlich gibt es auf nanoo.tv eine auf 43 Minuten gekürzte Schulversion, die sich noch besser für den Unterricht eignet. Trotzdem gilt: Nur mit Vor- und Nachbereitung zeigen!
Schulversion (FSK 12)
Regie: Vít Klusák, Barbora Chalupová
EAN 7613059032903
Elite Film 2020
erhältlich im Handel, ausleihbar in Bibliotheken
«Der Film ist echt heftig und die Inhalte widern einen an. Ich bin sicher, dass einige meiner Schülerinnen und Schüler damit völlig überfordert wären. Daher empfehle ich die gekürzte Version. Sie ist heftig genug.»
Teilnehmer i@s-Netzwerk
Diskussion und Austausch
Es tat gut, sich nach dem Film draussen an der Sonne auszutauschen, denn alle Teilnehmenden zeigten sich gleichermassen erschüttert über den Film und dessen Inhalt. Die Diskussion über den Einsatz im Unterricht war sehr angeregt. Insgesamt können wir folgende Aussagen machen:
- Ohne eine intensive Vor- und Nachbereitung sollte dieser Film nicht im Unterricht gezeigt werden.
- Wir empfehlen, den Film nur ausschnittweise einzusetzen, denn einige Szenen erschienen uns sehr umstritten: z.B. das zur-Rede-Stellen eines Täters vor dessen Wohnung, das Hochloben eines 20-jährigen Chatpartners, der sich als Einziger "anständig" zu verhalten schien (und es aber dennoch normal findet, mit einer unbekannten 12-Jährigen zu chatten) oder auch das filmische Dokumentieren der manipulierten Nacktbilder.
- In der Dokumentation wird angegeben, dass Jugendliche ab 13 Jahren den Film unbegleitet schauen könnten. Davon raten wir ab. Aus unserer Sicht gehört dieser Film ausschliesslich sehr gut eingebettet in eine spiralförmige und regelmässige Präventionsarbeit. Der Film wird in der Mediothek Sternmatt 2 daher nur für Lehrpersonen ausleihbar sein.
- Einzelne Lernende könnten aus "Gwunder" durch diesen Film dazu animiert werden, ein "eigenes Experiment" durchzuführen. Auch deshalb wird eine enge Begleitung der Klasse durch die Lehrperson mit zusätzlichen Hintergrundinformationen sehr empfohlen. Ein "eigenes Experiment" kann sehr viel Schaden anrichten und schnell ausser Kontrolle geraten. Die Tatsache, dass sich bei einer der (volljährigen und psychologisch betreuten) Schauspielerinnen ein Trauma einstellte, das durch den Anrufton des Chats getriggert wurde, lässt da wenig Interpretationsspielraum.
- Die Methoden, mit denen Täterinnen und Täter bei diesem Experiment "angelockt" wurden, befinden sich selber in einer gesetzlichen Grauzone. Das ganze Filmmaterial wurde zwar am Schluss der tschechischen Polizei übergeben. Ob es zu Anzeigen/Verhaftungen geführt hat, erfährt man nicht. Hier lässt der Film viele Fragen offen.
- Alle Hinweise im Film zur gesetzlichen Lage beziehen sich auf Tschechien.
- In den Unterlagen zum Film finden sich hingegen wertvolle Hinweise zum Schweizer Strafgesetz und gute Unterrichtsideen zur Vor-/Nachbereitung zum Thema für Oberstufenschülerinnen und -schüler, die auch eingesetzt werden können, ohne den Film in voller Länge zu zeigen.
- Der Film kann Erwachsenen aufzeigen, in welche seelische Not Kinder und Jugendliche geraten können und wie wichtig daher Präventionsarbeit ist.
- Tatsache bleibt, dass sexuelle Übergriffe in den meisten Fällen nicht durch Unbekannte erfolgen. Das wird im Film nicht thematisiert.
- Uns scheint wichtig, dass Schülerinnen und Schüler Anlaufstellen kennen, an die sie sich jederzeit niederschwellig und ohne Schuldzuweisung wenden können, wie zum Beispiel 147.ch . Das wird erst im Abspann erwähnt.
- Das regelmässige Hinzuziehen von Fachleuten für die Präventionsarbeit (z.B. Polizei, Pro Juventute oder zischtig.ch) und das Gestalten eines Spezialtages (an dem Teile des Filmes auf Stufe Zyklus 3 eventuell Teil davon sein könnten) unterstreichen unserer Erfahrung nach die Wichtigkeit des Themas und wirkt auf viele Kinder und Jugendliche nachhaltiger.
Unterrichtsmaterialien
Auf einem Padlet haben wir Infos zum Film und weitere Materialien zum Thema Cybergrooming gesammelt.
Darin wird auch auf den Spielfilm «Das weisse Kaninchen» von 2016 verwiesen, der sich auf andere Weise dem Thema annähert.
Fazit
Der Film «Gefangen im Netz» nimmt sich einem schwierigen, aber wichtigen Thema an. Die hohen Erwartungen kann der Film aber nur teilweise erfüllen. Er hat einige Schwächen und eignet sich definitiv nicht, um das Thema Cybergrooming oder Gefahren im Netz abschliessend im Unterricht zu behandeln. Viele Jugendliche können mit den Inhalten überfordert sein.
Hervorzuheben sind:
- der gelungene Anfang des Films mit dem Casting und dem Einrichten der "Kinderzimmer"
- die filmischen Einstellungen, in denen das Setting stets klar bleibt
- die Verhaltenstipps, die die Schauspielerinnen direkt an die Zuschauenden geben
- das Begleitmaterial auf der Webseite.
Cybergrooming bleibt häufig im Verborgenen. Jugendliche schämen sich, wenn sie darauf hereingefallen sind oder haben Angst vor Konsequenzen, wenn herauskommt, dass sie sich wider besseren Wissens nicht an vereinbarte Sicherheitsmassnahmen gehalten haben.
Das Bedürfnis nach Likes, Komplimente und persönlicher Bestätigung, das Ausprobieren und Ausloten von Grenzen gehören jedoch zur Adoleszenz. Startet Präventionsarbeit erst in diesem Alter oder mit erhobenem Mahnfinger und Androhung von Strafen, kann sie das Gegenteil bewirken. Prävention vor Gefahren im Netz und im realem Leben muss viel früher einsetzen - beispielsweise bereits im Kindergartenalter mit geeigneten Bilderbüchern und Gesprächen.
Über alle Kinder- und Jugendjahre hinweg braucht es viele Wiederholungen mit immer wieder thematisierten, altersgerechten Verhaltensempfehlungen und dem Stärken des Selbstwertes. Hauptbotschaften: Mein Körper gehört mir - Gute/schlechte Geheimnisse - Was sind echte Freundschaften? - Wem kann ich was anvertrauen?
Unser aller gemeinsames Ziel ist, dass Kinder und Jugendliche das Internet verantwortungsvoll und positiv nutzen können. Dass sie darüber Bescheid wissen, wie sie ihre persönlichen Daten schützen, dass sie Kompetenzen erwerben, um Echtes und Gefaktes im Netz zu erkennen, aber auch wissen, an wen sie sich vertrauensvoll wenden dürfen, wenn mal was schief läuft. Daher dürfen wir Lehrpersonen auch unbequeme Präventionsthemen nicht ausklammern, sondern müssen sie immer wieder auf unsere Lernenden angepasst in den Unterricht einbringen.
Teile des Filmes «Gefangen im Netz» können eine solch fundierte Präventionsarbeit allerhöchstens ergänzen. Keinesfalls aber ersetzen.
Herzlichen Dank an Michi, Christoph, Simon, Ivo, Guido, Anselm, Matthias, Phips, Denis, und Stephanie, die gemeinsam mit Pascal Schauber und mir am Netzwerktreffen teilgenommen und zum Entstehen dieses Beitrages beigetragen haben.
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Renéee Lechner (Sonntag, 12 September 2021 11:21)
Vielen Dank für das Zusammentragen und behandeln des Themas Cybergrooming. Ein Thema, dass wir unbedingt in der Schule behandeln sollten.
Liebe Grüsse
Renée