Für einmal sind es nicht die Jugendlichen, die kurz nach dem Schuljahresstart für Sexting-Schlagzeilen sorgen, sondern ein erwachsener Politiker, der es besser hätte wissen sollen. Im Blogbeitrag wird der aktuelle Fall zum Präventionsmaterial und zeigt auf, wie Social Media funktionieren.
Nervenkitzel, Blödelei, Faszination oder einfach nur Dummheit?
Der aktuelle Sexting-Fall eines Politikers, der wegen seiner Nackt-Selfies durch alle Medien geschleift wird, lässt uns einmal mehr aufhorchen. Ein Erwachsener, der beruflich im Rampenlicht steht, tappt in die Sextingfalle? Kaum zu glauben! Offenbar sind es nicht nur Jugendliche, die das Versenden eigener, nicht jugendfreier Bilder praktizieren, obwohl landauf, landab davor gewarnt wird. Und bestimmt hätte sich auch Geri Müller nie geträumt, dass er dereinst mit solch einer Aktion im Zentrum des Interesses stehen könnte. Das denken auch die Jugendlichen:
In sämtlichen Präventionslektionen, die ich mit Schülerinnen und Schülern schon erlebt habe, waren alle überzeugt, dass sie "sowas" NIE tun würden. Tatsächlich? Warum geschieht es dann eben doch?
Im nachstehenden Film (12 Min) aus dem Dossier Sexting von myschool sprechen Jugendliche über ihr Handyverhalten. Ein interessanter Einstieg, um mit der eigenen Klasse über das Thema Sexting ins Gespräch zu kommen. Der Film ist auch im Baarer nanoo.tv-Archiv zu finden.
Sexting als Vertrauensbeweis
Wenn du mir vertraust, dann beweise es mit einem Bild. Was auf den ersten Blick völlig unsinnig erscheint - unter gewissen Umständen ist schon so manche(r) dieser Illusion verfallen. Dieses Phänomen bzw. Paradoxon hat Philipp Wampfler, Gymnasiallehrer und Medienexperte aus Zürich, bereits in seinem Blog sehr treffend beschrieben:
"Vertrauen ist sehr paradox – es erfolgt nicht begründet, sondern basiert auf einer Annahme: »Ich kann dem anderen vertrauen.« Deshalb haben so genannte Vertrauensbeweise einen hohen Stellenwert. Je gefährlicher etwas ist – z.B. ein Nacktbild verschicken, ein Passwort tauschen, desto besser eignet es sich für den Versuch zu beweisen, dass man einer anderen Person vertraut."
Ob Adoleszent oder Midlife-Crises - das Vertrauens-Paradoxon funktioniert in verschiedenen unsicheren Lebenssituationen garantiert.
Oft führen auch weit undramatischere Szenarien zum Austausch intimer Bilder: z.B. Blödeleien, Gruppendruck, Alkoholeinfluss.
Das Ausleben sexueller Fantasien, die unseren moralischen Gepflogenheiten nicht entsprechen, ist ja unter Erwachsenen per se nicht strafbar - die gesellschaftliche Ächtung kann dennoch gnadenlos ausfallen. Denn: Die Auswirkungen, wenn die Bilder publik werden, sind in jedem Fall für alle Beteiligten gravierend: Alle gehen als Verlierer vom Platz. Ist die Lawine einmal losgetreten, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie aufzuhalten.
Ist Sexting strafbar?
Die meisten Nacktselfies werden wie aufgezeigt freiwillig versendet und sind keine Folgen von Erpressungen. Strafbar macht sich hierbei zuerst einmal der oder die Senderin selber - jedenfalls, wenn die Bilder an Jugendliche unter 16 Jahren verschickt werden. Diese Information löst bei den Jugendlichen immer wieder grosses Erstaunen aus und ist umso wichtiger: Auch wenn Sender und Empfänger damit (zunächst) einverstanden sind: Das Versenden von pornografischem Inhalt (z.B. Nacktselfies) an unter 16-Jährige ist ein Straftatbestand!
Darüber hinaus gilt: Wer intime Videos und Bilder einer anderen
Person, egal welchen Alters, gegen deren Willen oder ohne deren
Wissen weiterschickt, verstösst gegen das Datenschutzgesetz. Intime
Inhalte gehören zur Privatsphäre und sind besonders schutzwürdig.
Eine Verbreitung der Bilder ohne Einwilligung der abgebildeten Person
verletzt deren Persönlichkeitsrechte. Bereits wer mit der Verbreitung
solcher Fotos droht, macht sich strafbar.
Fakt ist: Das Versenden eines Nackt-Selfies ist erlaubt, wenn Sender und Empfänger älter als 16 sind.
Doch nicht alles, was erlaubt ist, ist auch schlau!
Denn: einmal im Netz - immer im Netz!
Diese Regel gilt selbst dann, wenn ich Bilder nur mit meiner besten Freundin im Chat teile. Jede Kontrolle darüber entfällt, sobald ich ein Bild einer anderen Person zur Verfügung stelle. Ob bewusst, gewollt oder durch einen Fehler in den Einstellungen - vom einmal geteilten Bild bis zur weltweiten Veröffentlichung ist es nur ein ganz kleiner Schritt. Denn genau so funktionieren Social Media:
Die digitale Vernetzung funktioniert als Multiplikator mit dem Ziel, eine Nachricht möglichst schnell, möglichst weit zu streuen.
Ob eine Nachricht richtig oder falsch, relevant oder privat ist, spielt bei der Art und Weise, wie sie sich via Social Media verbreitet, keine Rolle. Die Maschinerie tritt in Kraft und weitet sich unaufhaltsam aus, wie die Kreise, die entstehen, wenn man einen Stein in einen ruhigen See wirft. Nachrichten, die von heftigen Kollateralschäden begleitet werden, profitieren sogar noch intensiver von der rasanten Streuung durch Social Media. Denn einerseits ist es die Sensationslust der Menschen und andererseits der wirtschaftliche Aspekt der Medien, die dafür sorgen, dass gerade brisante Neuigkeiten möglichst schnell die Runde machen.
Hilfe für Schülerinnen und Schüler
Schadensbegrenzung
Wie auch immer es dazu gekommen ist, dass intime Bilder und Videos in Umlauf geraten sind: Betroffene brauchen in erster Linie eine Vertrauensperson und Hilfe zur Schadensbegrenzung. Beides hilft den Beteiligten weit mehr als Pranger und Häme, erst recht, wenn es sich um Jugendliche handelt. Das sofortige Eingreifen von Fachpersonen ist wichtig und richtig.
Was kann ich tun, wenn persönliche Bilder von mir unerlaubt verbreitet worden sind?
- Lies das Merkblatt der ProJuventute
- Wenn du den Versender kennst, bitte ihn, dafür zu sorgen, dass die Bilder bei sich und allen Empfängern wieder gelöscht werden
- Teile der Person ausserdem mit, dass sei mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen hat.
- Bleib nicht allein: Hole dir Hilfe bei einem Erwachsenen (Vertrauensperson, Telefonberatung 147, Schulsozialarbeiter...)
- Hole dir Rat beim Jugenddienst der Kantonspolizei
Praktische Tipps finden sich auch auf saferinternet.at
Was kann ich tun, wenn meine Klassenkameraden pornografisches Material via Handy austauschen?
- weise die Beteiligten darauf hin, dass das unerlaubte Verbreiten eines intimen Fotos eine strafbare Handlung ist oder:
- informiere eine erwachsene Vertrauensperson darüber, die entscheidet, was zu tun ist
Was kann ich tun, wenn ich selber solche Bilder ungewollt erhalte?
- informiere eine erwachsene Person deines Vertrauens darüber
- lösche das Foto
- schicke es auf keinen Fall weiter
Wie können Lehrpersonen reagieren, wenn solche Bilder auf den Handys der SuS kursieren?
- das Merkblatt der ProJuventute durchlesen
- Fachperson und Schulleitung beiziehen und weiteres Vorgehen absprechen, wenn eine Schülerin/ein Schüler involviert ist
- dem Opfer keine Vorwürfe machen, sondern ihm Rückhalt geben und an eine Fachperson vermitteln
- SuS über korrektes Verhalten und Rechtslage informieren
- einen offenen Umgang im Lehrerteam pflegen und gemeinsames Vorgehen planen
- Präventiv arbeiten: Gespräch mit der Klasse suchen, aktuelle Fälle aus der Presse zum Anlass nehmen, das Thema präventiv zu besprechen und Situation der Betroffenen zu analysieren
- auf Rechtslage hinweisen
- Netiquette vereinbaren und vorleben
- Gemeinschaftsgefühl in der Klasse stärken
Materialien und Themen für den Unterricht
Grundsätzliches zu Sexting
Besonders in der 1. Oberstufe ist es wichtig, dass Sexting thematisiert wird. Das neue Umfeld, eine neue Identifikation bzw. der Wunsch nach einer neuen Selbstpräsentation sind neben der Pubertät heikle Lebensumstände, in denen unachtsames Verhalten vermehrt vorkommt und weit grössere Folgen haben kann als von den Jugendlichen vorausschaubar ist.
Verschiedene Anbieter stellen im Netz eine Fülle erprobter Materialien zur Verfügung:
Bildmaterialien, Beispiele aus der Praxis und Hintergrundinfos
inkl. Video.
Zum Video ist zu sagen, dass die wenigsten Jugendlichen mittels Sexting-Bild Berühmtheit erlangen wollen. Weit öfter geht es darum, zu einer Gruppe dazuzugehören und/oder einer Freundin/einem Freund einen Vertrauensbeweis zu liefern oder bei etwas mitzumachen, das zunächst als Blödelei empfunden wird.
Informationen von zischtig.ch
Die Seite verweist auf eine Club-Sendung zum Thema "Teenie-Sex im Netz", die am 22. August 2013 ausgestrahlt worden ist:
Diskussion über das öffentliche Interesse und die Macht der Medien
Aktuelle Vorkommnisse wie die oben erwähnte Politiker-Sexting-Story sind ideale Türöffner, um mit Jugendlichen der 3. Oberstufe zu diskutieren.
Die Club-Diskussionssendung vom 19. August 2014 lieferte gleich einige Themen:
- Wie kann man (auch als Erwachsener) in so eine Sache hineinrutschen?
- Wie hoch ist der Preis dafür? (Berufliche Folgen, familiäre Folgen, Ansehen, Rufschädigung, Beschämung...)
- Wann ist das öffentliches Interesse berechtigt, auch wenn keine strafbaren Handlungen vorliegen?
- Welche No-Gos gibts am Arbeitsplatz?
- Wie gross ist die Macht der Medien?
- Sind soziale Netzwerke grundsätzlich gefährlich oder fehlt es den Benutzern an sozialer und medialer Kompetenz?
- Wie verhält man sich verantwortungsbewusst in solch einem Fall?
- Was ist Moral und wer bestimmt sie?
- Wie kommt es zu einem Shitstorm und welche Folgen gehen daraus hervor?
Auf nanoo.tv kann die Club-Folge beliebig kurz geschnitten und im Unterricht sequenzweise verwendet werden. Dazu eignen sich z.B. die Ausschnitte ab Min. 4.20, wo Geri Müller erläutert, wie es dazu gekommen ist und/oder ab Min. 39.40, wo darüber diskutiert wird, ob es auch von öffentlichem Interesse wäre, wenn eine Lehrperson intime Bilder mit einer anderen erwachsenen Person austauschen würde.
Aktuelle Fälle zeigen den Jugendlichen auf, wie schnell solche Materialien in Umlauf geraten und sensibilisieren ihr persönliches Verhalten.
Es lohnt sich auch, präventiv anzuschauen, wie das korrekte Verhalten aussieht, wenn solche Bilder auf Handys zirkulieren und dass Jugendliche sich strafbar machen können, wenn sie solche Bilder weiterschicken.
Weiterlesen:
Interview mit Journalistik-Professor Vinzenz Wyss über die Rolle der Medien
Medienblog von Rainer Stadler über die ungenaue Berichterstattung der Medien
Doppelmoral im Blick über die Ungleichbehandlung von Nacktbildern in Boulevardmagazinen
Weiterführende Themen
Cyber-Grooming
Nacktbilder nach Cyber-Grooming
Eine völlig andere Herkunft haben Nacktbilder, die aufgrund eines Cyber-Groomings entstanden. Hierbei werden Kinder und Jugendliche gezielt von Erwachsenen sexuell belästigt, meist, indem sie sich als gleichaltrig ausgeben.
Informationen dazu gibt es hier.
Dieses perfide Verbrechen ist zwar nicht mit Sexting gleichzusetzen. Für Kinder und Jugendliche sind folgende Tipps aber grundsätzlich wichtig:
- Bleib bei neuen Kontakten im Internet immer skeptisch und vorsichtig.
- Versuche so wenig wie möglich über dich und dein Privatleben zu erzählen.
- Glaub nicht alles, was dein Chatpartner dir erzählt.
- Bevor du dich verabredest, telefoniere doch vorher. An der Stimme kannst du erkennen, ob es sich um einen älteren Menschen handelt.
- Wenn du dich zu einem Treffen verabredest, geh nach Möglichkeit nur in Begleitung eines Freundes.
- Informiere deine Familie/Freunde über das Treffen mit Ort und Zeitpunkt, damit sie notfalls wissen, wo du bist.
- Erzähl deinem Chatpartner, dass du deiner Familie oder deinem besten Freund/in von dem Treffen erzählt hast.
- Das Treffen sollte nur tagsüber an belebten Orten stattfinden.
- Hab dein Handy griffbereit und bitte eine Freundin, dich während des Treffens einmal anzurufen.
- Falls du dich von einem Chatpartner belästigt fühlst oder erpresst wirst, wende dich an eine erwachsene Person und lass dir helfen, z.B. mit Telefon 147.
Kommentar schreiben